Zwischen Kartons und Klarheit: Minimalismus naxch elf Umzügen
Es war 2:17 Uhr nachts, als ich auf meinem Schlafzimmerboden zusammenbrach.
Um mich herum: 47 Kartons. Ja, ich habe sie gezählt. In jedem einzelnen befanden sich Gegenstände, die ich vor sechs Stunden noch für unverzichtbar gehalten hatte. Meine Tränen tropften auf ein vergilbtes Konzertticket von 2008, eines von hunderten, die ich „für die Erinnerung“ aufbewahrt hatte. In diesem Moment hasste ich mich selbst.
Das war nach Umzug Nummer zehn. Und der Moment, in dem ich schwor: „Nie wieder.“
Der Schmerz des Immer wieder Sammelns
Weißt du, was das Schlimmste an häufigen Umzügen ist? Nicht die körperliche Anstrengung oder die Kosten. Es ist dieser Moment, wenn du einen Karton öffnest und dich fragst: „Warum zum Teufel habe ich das mitgenommen?“
Bei meinem fünften Umzug fand ich eine Sammlung von 31 Rasierern und Deos aus Drogerie Sonderangeboten. Einunddreißig. „Die kann man immer gebrauchen“, hatte ich mir eingeredet. Die Wahrheit? Sie lagen drei Jahre unbenutzt in einem Karton, während ich die teureren Marken kaufte, die ich eigentlich bevorzugte.
Bei Umzug Nummer sieben war es eine Kiste mit Ladegeräten und USB Kabeln. Ich konnte nicht mal mehr zuordnen, zu welchen Geräten sie gehörten. Aber wegwerfen? „Man weiß ja nie…“ Diesen Satz habe ich zu oft gedacht.
Die emotionale Erschöpfung, die mit jedem Transport meines Besitzes einherging, war erdrückend. Als hochsensibler Mensch fühlte sich jeder Gegenstand wie eine Entscheidung an, die mich innerlich zerriss: Mitnehmen oder loslassen? Und ich entschied mich fast immer für das Mitnehmen, weil jede Trennung schmerzte.
Die Bibliothek meiner Ausreden
Mein Bücherregal war mein größter Selbstbetrug. 247 Bücher besaß ich vor drei Jahren. Ich habe sie gezählt, weil ich endlich ehrlich zu mir sein wollte. Von diesen 247 Büchern hatte ich 89 gelesen. Die anderen? „Werde ich bestimmt noch lesen.“
Das eine Buch über Quantenphysik, das ich 2015 gekauft hatte, weil ich mich „dafür interessiere“? Liegt immer noch ungelesen da. Das Kochbuch für vegane Desserts? Ich bin nicht mal Veganer. Die komplette Sherlock Holmes Sammlung, die ich „für gemütliche Winterabende“ angeschafft hatte? Drei Bände geöffnet.
Jedes ungelesene Buch war ein stummer Vorwurf: „Du hast mich gekauft, aber nie die Zeit für mich gefunden.“ Als jemand, der Emotionen besonders intensiv wahrnimmt, fühlte ich mich von jedem ungenutzten Buch persönlich angeklagt. Beim letzten Umzug spendete ich 158 Bücher. Es tat körperlich weh, aber es fühlte sich auch an wie das Atmen nach langem Luftanhalten.
Der Kleiderschrank der verpassten Identitäten
Jeden Morgen stand ich vor meinem überfüllten Kleiderschrank und trug trotzdem immer dieselben zehn Outfits. Die anderen Sachen? „Für andere Lebensphasen.“ Welche anderen Lebensphasen? Die existierten nur in meiner Fantasie.
Da war das Hemd für 89 Euro, das ich „für wichtige Geschäftstermine“ gekauft hatte. In drei Jahren trug ich es einmal, zur Beerdigung meines Großvaters. Ausgerechnet. Die fünf Anzüge für „erfolgreiche Meetings“? Ich arbeite im Homeoffice. Die Wanderschuhe für „geplante Bergtouren“? Der höchste Berg, den ich erklommen habe, war mein Dachboden.
Meine halbjährliche Kleiderschrank Revolution wurde zu einer emotionalen Achterbahnfahrt. Jedes Kleidungsstück erzählte eine Geschichte über den Mann, der ich sein wollte, aber nicht war. Als Hochsensibler spürte ich jeden unerfüllten Traum, der in diesen ungenutzten Hemden und Hosen steckte.
Das Geständnis eines Technik Sammlers
Hier wird es peinlich: Ich besitze etliche Smartphones und ein halbes Dutzend Kopfhörer.. EIN HALBES DUTZEND. Over-Ears und diverse In-Ears, Schlafkopfhörer, Open-Ears und und und.
Welche benutze ich am meisten? Eigentlich immer die gleichen.
Dazu kommen drei Gaming Headsets (für verschiedene „Hörerlebnisse“), zwei mechanische Tastaturen (eine für Gaming, eine für „produktives Schreiben“) und fünf externe Festplatten voller Fotos, die ich „irgendwann mal sortieren“ wollte.
Ein älteres Samsung Smarthone nutzte ich nur noch für die Einrichtung und Verwaltung der Smart Homne Gadgets, von meinem IOnePlus mochte ich mich genausowenig trennen, wie vom weißen Oppo, obwohl ich längst zu einem kompakteren Xiaomi 15 gelandet bin. Es könnte ja mal defekt sein…
Trotzdem kann ich mich nicht von ihnen trennen. Bei Technik versagt mein Minimalismus Muscle komplett. Als Hochsensibler hänge ich emotional an jedem Gerät, das mir mal Freude bereitet hat. Ist das inkonsequent? Absolut. Macht es mich zu einem schlechten Minimalisten? Vielleicht. Aber es macht mich zu einem ehrlichen Menschen.
Der Moment der Wahrheit
Der Wendepunkt kam nicht durch ein Buch oder einen Guru. Er kam durch eine Panikattacke.
Es war vor einem Jahr, als ich wieder vor meinem Arbeitszimmer stand, vollgestopft mit Gadgets, Kabeln und halb fertigen Projekten, und buchstäblich nicht atmen konnte. Zu viel. Zu viele Entscheidungen. Zu viele Dinge, die mich anstarrten und stumm fragten: „Warum hast du mich gekauft, wenn du mich nie benutzt?“
Die sensorische Überreizung war unerträglich. Jeder Gegenstand schrie nach meiner Aufmerksamkeit. Als Hochsensibler war ich schon immer anfällig für Überforderung, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass mein eigener Besitz mich überstimulierte.
Ich setzte mich auf den Boden und weinte. Richtig heulen. Nicht wegen der Gegenstände, sondern wegen allem, was sie repräsentierten: Verschwendetes Geld, verpasste Gelegenheiten, ein Leben voller „Was wäre wenn“ und „Irgendwann mal“.
In diesem Moment verstand ich: Meine Sachen besaßen mich, nicht umgekehrt.
Die 30 Tage Regel, die mein Leben rettete
Seitdem praktiziere ich die 30 Tage Regel, aber nicht, wie du denkst. Wenn ich etwas kaufen möchte, schreibe ich es auf eine Liste und warte 30 Tage. Aber das Geniale ist: Ich führe Tagebuch darüber, warum ich es haben will und wie ich mich dabei fühle.
Tag 1: „Brauche unbedingt dieses neue Mikrofon für bessere Videokonferenzen.“ Tag 15: „Habe gemerkt, dass mein altes Mikrofon völlig ausreicht.“ Tag 30: „Lache über mich selbst. Hätte 200 Euro für etwas ausgegeben, das nur meiner Technik Obsession geschuldet war.“
Diese Aufzeichnungen sind schonungslos ehrlich. Sie zeigen mir meine Konsum Muster und vor allem: meine emotionalen Trigger. Als Hochsensibler kaufe ich oft aus Gefühlen heraus, nicht aus rationalen Bedürfnissen. 80 Prozent der Dinge auf meiner „Will ich kaufen“ Liste brauche ich nach 30 Tagen nicht mehr.
Was wirklich passiert, wenn du loslässt
Als ich das erste Mal einen ganzen Karton voller Gadgets zum Recyclinghof brachte, hatte ich Angst. „Was, wenn ich das alles noch mal brauche?“ Aber weißt du was? Ich habe nie nach einem dieser Dinge gesucht. Nicht ein einziges Mal.
Stattdessen passierte etwas Unerwartetes: Mein Arbeitszimmer wurde zu einem Ort der Ruhe statt der Reizüberflutung. Morgens dauerte es nur noch fünf Minuten, um zu entscheiden, was ich anziehen wollte. Und beim letzten Umzug, dem elften, brauchte ich nur noch einen Transporter statt eines ganzen LKW.
Aber das Wichtigste: Meine Gedanken wurden klarer. Als Hochsensibler bin ich ohnehin anfällig für mentale Überforderung. Weniger Zeug bedeutete weniger visuelle Reize. Weniger Entscheidungen bedeuteten weniger mentale Erschöpfung.
Die dunklen Momente des Loslassens
Nicht alles ist rosig. Manchmal überfällt mich immer noch die Angst: „Was, wenn ich das doch noch brauche?“ Vor zwei Monaten warf ich ein altes Adapterkabel weg und brauchte es eine Woche später. Murphy’s Gesetz.
Es gibt auch Rückfälle. Letzten Monat kaufte ich drei neue Tshirts online, obwohl mein Schrank voll ist. Warum? Weil sie im Sale waren und ich einen schlechten Tag hatte. Als Hochsensibler neige ich zu emotionalen Käufen, besonders wenn ich gestresst bin.
Aber ich habe gelernt, mir zu verzeihen. Minimalismus ist kein Zustand, den man erreicht und dann abhakt. Es ist ein täglicher Prozess, eine ständige Entscheidung zwischen „Brauche ich das wirklich?“ und „Kaufe ich das, weil ich mich gerade schlecht fühle?“
Mein persönlicher Minimalismus, unperfekt und ehrlich
Ich werde nie einer dieser Instagram Minimalisten sein, die in komplett weißen Räumen leben und nur 30 Gegenstände besitzen. Als Hochsensibler brauche ich Farben, Texturen und gemütliche Ecken. Meine Wohnung ist warm, einladend und manchmal auch etwas chaotisch.
Aber sie ist meine. Jeder Gegenstand hier hat seine Berechtigung. Er wird entweder regelmäßig benutzt, macht mich glücklich oder hilft mir, mich in meiner eigenen Haut wohlzufühlen. Manchmal alles drei.
Meine Smartphones? Behalte ich. Nicht, weil sie rational sinnvoll sind, sondern weil sie Teil meiner kreativen Identität und viel Fotografie sind. Als Hochsensibler definiere ich mich stark über meine Interessen und Leidenschaften. Und manchmal ist das okay.
Was ich dir mit auf den Weg geben möchte
Falls du gerade auch vor einem überfüllten Arbeitszimmer stehst oder dich in meiner Geschichte wiedererkennst: Du bist nicht allein. Gerade als hochsensibler Mensch leben wir in einer Welt, die uns täglich mit Reizen und Kaufimpulsen überflutet.
Aber du musst nicht radikal werden. Du musst nicht alles wegwerfen. Du musst nur anfangen, bewusster zu entscheiden und deine eigenen emotionalen Muster zu erkennen.
Fang klein an. Eine Schublade. Ein Regal. Ein Karton.
Und wenn du das nächste Mal etwas kaufen willst, halt kurz inne und frag dich: „Kaufe ich das für den Mann, der ich bin, oder um ein Gefühl zu kompensieren?“
Meist liegt in dieser Pause die Antwort.
Wie gehst du als hochsensibler Mensch mit der Reizüberflutung durch zu viele Besitztümer um? Welcher Gegenstand wartet bei dir schon zu lange auf seine Bestimmung? Erzähl mir davon in den Kommentaren, ich bin gespannt auf deine Geschichte.
0 Kommentare