Misophonie, die selektive Geräuschintoleranz – wenn man Geräusche hasst. Aufklärung und die Frage nach dem Zusammenhang mit HSP – Hochsensibilität.

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Uwe B. Werner
Misophonie. Wir alle kennen aus zahlreichen Filmen die Situation wie jemand in einem Klassenzimmer mit seinen Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzt und das Geräusch alle Schüler zum Schreien bringt.
Gewiss, die Szenerie ist etwas übertrieben, aber fast jeder von uns hat Geräusche, die er weniger mag oder die er gern vermeidet. Für manche ist es das Brechen von Styropor, für andere das Kratzen an Beinen in Feinstrumpfhosen, die Liste ist endlos. Dennoch ist dieser Widerwillen größtenteils eine normale Reaktion. Wir bekommen Gänsehaut, halten uns die Ohren zu, schütteln uns. Das war es aber auch schon.
Doch es kann auch schlimmer sein. Wer an einer Misophonie leidet, für den sind bestimmte Geräusche mehr als Unwohlsein, für den können Geräusche eine körperliche Qual darstellen und Wut und Haß hervorrufen.
Misophonie ist keine weltweit anerkannte Krankheit. Die „Selektive Geräuschintoleranz“ ist vielmehr bei Wissenschaftlern erst seit 1993 richtig auf dem Schirm.

Hass auf Geräusche
Misophonie ist dabei so vielschichtig wie die Geräuschkulissen, die uns täglich umgeben. Während den einen ein Schmatzen beim Essen buchstäblich zur Weißglut bringen kann, sitzt nebenan jemand, der ebenfalls an Misophonie leidet und dem dieses Geräusch gar nichts ausmacht.
Die amerikanischen Neurowissenschaftler Pawel und Margaret Jastreboff haben sich schon in den 90er-Jahren mit dem Phänomen auseinandergesetzt und ihm seinen Namen gegeben. Die beiden Forscher nehmen an, dass der Misophonie eine Nervenkrankheit zu Grunde liegt. Dabei ist bislang nicht einmal klar, ob man überhaupt von einer Krankheit sprechen kann oder ob die Misophonie nicht einfach eine Wesensart wie zum Beispiel die Hochsensibilität ist. Andere sprechen von einer Zivilisationsallergie, wobei hier Ergebnisse einer Studie fehlen, inwieweit sich dieses Erscheinungsbild in den letzten Jahren und Jahrzehnten verbreitert hätte.
Auch der Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Misophonie ist bislang nicht ursächlich belegt. Fest steht jedoch wohl, dass hochsensible Personen stärker unter der Misophonie leiden.
Misophonie und die Abgrenzung
Misophonie muss sich auch von anderen Geräuschintoleranzen abgrenzen lassen. Da wäre zum Beispiel diePhonophobie, bei der sich Menschen vor bestimmten Geräuschen fürchten. Hyperakusis dagegen erzeugt körperliche Schmerzen bei extrem hoher Lautstärke. Das vorherrschende Gefühl bei Misophonie dagegen ist Wut.
Es gibt unterschiedliche Aussagen in diversen Foren. Bei einigen, die darüber berichten, trat Misophonie schon in ihrer frühesten Jugend auf, andere fühlen sich damit erst in der Mitte ihres Lebens konfrontiert.
Manche Betroffene berichten von einer Konditionierung durch Vorgeschehnisse, andere können sich das Auftreten bei sich gar nicht erklären.
Ich gehöre wohl zu denjenigen, bei denen bestimmte Ereignisse ausschlaggebend für das Auftreten der selektiven Geräuschintoleranz geworden ist.

Wie mich der Bass zur Weißglut bringt
Seitdem ich vor über fünf Jahren in meine Wohnung eingezogen bin, gab es immer wieder Ärger mit dem Nachbarhaus wegen fast dauerhafter Lärmbelästigung. Partys unter der Woche, oft bis tief in die Nacht, Strassenbeschallung und Nachbarn, die aus Bequemlichkeit oder Furcht nicht wagen den Mund aufzumachen. Ein Kampf gegen Windmühlen.
Die Musik, mir kräftigem Bass unterlegt, durchdringt die Mauern und nicht selten gab es Live-Gitarre und Bass. Es war nicht nur an Schlaf dabei nicht zu denken, sondern es entwickelte sich dabei offensichtlich bei mir im Laufe der Zeit eine derartig hohe Aversion gegen dumpfe Bassgeräusche, dass ich diese indessen überall sofort heraushöre, seien sie auch noch so leise. Eine innerliche Wut steigt in mir hoch und ich muss versuchen das Geräusch zu unterdrücken, zu übertönen oder den Ort zu wechseln. Musikkonzerte sind so für mich so gut wie erledigt, Partys oft schmerzhaft und Fahrzeuge mit voll aufgedrehten Anlagen wünsche ich gern innerlich einen Platten.
Forscher, welche sich mit dem Phänomen seit zwei Jahrzehnten beschäftigen, sprechen davon, dass die psychologische Perspektive auf eine gelernte Verbindung zwischen den negativen Gefühlen und dem auslösenden Geräusch schließt.
Es ist schwer zu beschreiben wie ein einzelnes Geräusch einen nicht nur stören, sondern regelrecht wütend und gleichzeitig hilflos werden lässt.
Hochsensibilität verstärkt Misophonie?
Es ist eine These, die bislang durch keiner Studie oder Forschung belegt werden konnte. Schaut man sich jedoch zahlreiche Selbsthilfegruppen und die Diskussion in diversen Foren an, so kommt man unweigerlich zu diesem Bild. Auch wenn HSP – Hochsensibilität heute als Auffangbecken für alles Mögliche gesehen wird und zahlreiche esoterische „Experten“ im Trüben fischen, scheinen doch bei vielen Betroffenen die Wirkungen der Misophonie unweigerlich stärker ausgeprägt, so der Betroffene sich selbst oder durch andere als Hochsensibel eingestuft wird.
Es bleibt zu hoffen, dass es in der Zukunft ernsthafte Forschungen zu der Thematik gibt, die vielleicht Betroffenen Lösungsansätze zum besseren Umgang mit der Misophonie gibt. Ohrstöpsel sind es nicht…
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