Hochsensibilität und Reizüberflutung: Mein persönlicher Weg zu einem ausgeglichenen Leben
Von der Herausforderung zur Stärke: Wie ich als hochsensibler Mensch gelernt habe, mit Reizüberflutung umzugehen und ein erfülltes Leben zu führen.
Der Podcast zum Artikel:
Wenn die Welt zu laut wird – Meine Erfahrung mit Hochsensibilität
Schon immer hatte ich das Gefühl, anders zu sein. In einer Welt, die ständig auf Hochtouren läuft, fühlte ich mich oft überwältigt und erschöpft. Erst später erfuhr ich, dass es einen Namen für diese besondere Art, die Welt zu erleben, gibt: Hochsensibilität.
Von je her waren große Ansammlungen von Menschen für mich schwierig. Ich war nie derjenige, der sich bei einem Konzert ins Getümmel vor die Bühne stürzen konnte. Zu schnell kam Platzangst auf, aber auch noch etwas anderes, was ich lange nicht deuten konnte.
Noch heute gibt es Tage, an denen ich eher Ruhe und Abgeschiedenheit brauche und doch Einsamkeit nicht ertragen kann. Es scheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Es ist weniger das Gefühl, dass Menschenmassen mich körperlich erdrücken können, es ist mehr die emotionale Welle und die Akustik.
Erst viel später erkannte ich, dass ich einfach nicht filtern konnte. Sitze ich in einem Restaurant, kann ich mich oft nicht auf das Gespräch meines Gegenübers konzentrieren. Es fällt mir wirklich schwer, das Gespräch zu führen, denn ich nehme gleichzeitig ungewollt aber unabänderlich sämtliche Gespräche an den Nachbartischen wahr. Es ist, als würden zwanzig Mann gleichzeitig auf mich einreden. Schwierig bis sehr schwierig. Nach ein paar Minuten bin ich bereits seelisch und körperlich erschöpft.
Wenn ich mit Freunden mal in der Mensa der Uni essen gehe, ist es ähnlich. Ich weiß am Ende zwar, wie die Beziehung des unbekannten Mädels am Nachbartisch ausschaut und welche Themen sich der Student zwei Tische weiter für seine Masterarbeit im Sinn hat, aber dafür fehlt mir mehr als die Hälfte des Gesprächs an meinem Tisch.
Was Hochsensibilität wirklich bedeutet – Mehr als nur empfindlich sein
Hochsensibilität ist keine Störung oder Krankheit, sondern eine angeborene Eigenschaft, die bei etwa 15-20% der Bevölkerung vorkommt. Als hochsensibler Mensch nehme ich meine Umgebung intensiver wahr und reagiere empfindsamer auf Reize wie Geräusche, Gerüche oder auch die Emotionen anderer Menschen.
Diese tiefere Verarbeitung von Sinneseindrücken kann ein zweischneidiges Schwert sein. Einerseits erlebe ich die Welt in all ihren Facetten und Nuancen – Musik kann mich zu Tränen rühren, Naturerlebnisse berühren mich tief, und ich spüre oft intuitiv, wie es anderen Menschen geht. Andererseits kann diese Intensität schnell zu Überforderung führen, wenn zu viele Eindrücke gleichzeitig auf mich einströmen.
Die Wissenschaft spricht hier von einem „sensorischen Verarbeitungssystem“, das bei hochsensiblen Menschen besonders ausgeprägt ist. Wir filtern weniger aus, nehmen mehr wahr und verarbeiten diese Informationen tiefgründiger – ein Prozess, der viel Energie kostet und uns schneller erschöpfen lässt.
Typische Anzeichen von Hochsensibilität, die ich bei mir selbst erkenne:
- Eine überdurchschnittliche Sensibilität gegenüber Geräuschen, Gerüchen und visuellen Reizen
- Starke Empathiefähigkeit – ich nehme die Gefühle anderer intensiv wahr
- Tiefgründiges Nachdenken und intensive Reflexion
- Ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit
- Kreative und detailorientierte Denkweise
- Schnellere Überforderung in stimulierenden Umgebungen
Wenn alles zu viel wird – Reizüberflutung verstehen und bewältigen
Es gibt Tage, an denen scheint alles zu viel. Das ist ein Erlebnis, das jeder von uns mal hat. Es scheinen von allen Seiten Probleme, Informationen und Eindrücke auf uns einzuprasseln, da kann es einem schon mal zu viel werden.
Als Hochsensibler scheint man solche Tage öfters zu haben. Kleinigkeiten strengen dann mehr an, und nach einem zweistündigen Meeting bin ich für den Rest des Tages erledigt. Es sind aber nicht immer nur Reize in Bezug auf meine menschliche Umwelt, sondern oft auch optischer und akustischer Natur. Grelles Licht kann an manchen Tagen (und ich spreche jetzt nicht von Migräne) zur Tortur werden.
Geräusche sind da sogar noch schlimmer. Wenn dazu noch eine ausgeprägte Misophonie kommt, also man auf gewisse Geräusche fast aggressiv reagiert, dann ist man schnell ausgeknockt.
Gleichzeitig können einen aber auch Tage, wo man viel erlebt, geradezu berauschen. In jedem Fall ist Reizüberflutung ein Problem, mit dem ich lernen musste umzugehen.
Meine persönlichen Erfahrungen mit Reizüberflutung
Als hochsensibler Mensch erlebe ich Reizüberflutung auf eine besonders intensive Weise. An manchen Tagen scheint mein Nervensystem besonders dünnhäutig zu sein, und selbst Alltagsgeräusche wie das Ticken einer Uhr oder das Brummen eines Kühlschranks können mich dann an meine Grenzen bringen.
Besonders herausfordernd sind für mich:
- Öffentliche Verkehrsmittel zu Stoßzeiten: Die Kombination aus Lärm, Gedränge und verschiedenen Gerüchen kann überwältigend sein
- Großraumbüros: Das konstante Summen von Gesprächen, Telefonaten und Tastaturklappern macht konzentriertes Arbeiten fast unmöglich
- Einkaufszentren und Supermärkte: Die grelle Beleuchtung, die Hintergrundmusik und die vielen Menschen fordern meinen Geist stark heraus
- Familienfeiern: Auch wenn ich meine Lieben gerne sehe, kann die Kombination aus vielen Gesprächen, Emotionen und sozialen Anforderungen schnell zu viel werden
Mein persönlicher Werkzeugkasten: Strategien zur Bewältigung von Reizüberflutung
Es gibt zahlreiche Ideen und Ansätze, wie man mit Reizüberflutung umgehen kann, doch nichts allgemein gültiges, was auf alle zu passen scheint. Viele Bücher scheinen Anleitungen zu bieten, wie man als Hochsensibler Reizüberflutung begegnet oder wie man gut durch den Tag kommt. Einige davon habe ich gelesen und kopfschüttelnd beiseite gepackt.
Die einen empfehlen Meditation, die andere die Beschäftigung mit sich selbst. Mir hilft zumeist Schlaf oder lange Spaziergänge im Grünen mit ganz leiser und sanfter Musik, mehr Klänge und ohne Gesang.
Ich glaube, es gibt keine universelle Anleitung, und was für den einen passt und stimmt, bringt dem anderen rein gar nichts. Jeder von uns, der hochsensibel ist, muss seinen Weg suchen und finden. Wem Bücher dabei weiterhelfen, für den ist es gut, aber letztlich kann nur unser innerer Kompass die Maßschnur sein, die uns wirklich leitet.
Durch viel Ausprobieren und Selbstreflexion habe ich über die Jahre hinweg einige Strategien entwickelt, die mir helfen, besser mit Reizüberflutung umzugehen:
1. Bewusstes Nein-Sagen und Grenzen setzen
Ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, auch mal abzusagen oder früher zu gehen, wenn mir eine Situation zu viel wird. Die anfänglichen Schuldgefühle sind mittlerweile einem gesunden Selbstbewusstsein gewichen: Indem ich meine Grenzen respektiere, kann ich in den Situationen, in denen ich präsent bin, auch wirklich ganz da sein.
2. Meine persönlichen Ruheoasen schaffen
Ich habe in meiner Wohnung bewusst einen Rückzugsort eingerichtet – ein gemütliches Lesezimmer mit gedämpftem Licht, ohne elektronische Geräte und mit beruhigenden Farben. Hierher kann ich mich zurückziehen, wenn die Welt zu laut wird. Auch in meinem Alltag plane ich bewusst „Stille-Zeiten“ ein, in denen ich Abstand vom Trubel gewinne.
3. Filtern lernen durch Achtsamkeitstraining
Man kann Filtern lernen, das weiß ich indessen, aber es geht nicht von heute auf morgen und ist nicht immer leicht. Die Konfrontation mit der Reizüberflutung ist da sicherlich ein probates Mittel. Bei Allergien nennt man es Desensibilisierung. Das Prinzip, welches ich zum Beispiel bei meiner Kasein-Unverträglichkeit angewandt habe, ist ein ganz ähnliches.
Durch regelmäßige Achtsamkeitsübungen habe ich gelernt, meine Aufmerksamkeit bewusster zu lenken und besser zu fokussieren. Dies hilft mir, in reizüberflutenden Situationen gezielter auszuwählen, welche Eindrücke ich verarbeiten möchte und welche ich ausblenden kann.
4. Natürliche Unterstützung für mein Nervensystem
Ich achte bewusst auf eine ausgewogene Ernährung, die mein Nervensystem unterstützt – reich an Omega-3-Fettsäuren, Magnesium und B-Vitaminen. Zudem habe ich für mich entdeckt, dass regelmäßige Bewegung in der Natur und ausreichend Schlaf entscheidend sind, um meine Reizschwelle zu erhöhen und belastbarer zu werden.
5. Hilfsmittel für reizintensive Situationen
Für Situationen, die ich nicht vermeiden kann oder will, habe ich mir praktische Hilfsmittel zugelegt: Geräuschreduzierende Kopfhörer für Zugreisen, eine getönte Sonnenbrille für grelles Licht und beruhigende ätherische Öle, die mir helfen, mich inmitten von Stress zu zentrieren.
Die Schatzkiste der Hochsensibilität – Von der Herausforderung zur Stärke
Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Hochsensibilität nicht nur als Belastung, sondern auch als besondere Gabe zu sehen. Die tiefe Verarbeitung von Eindrücken macht mich zu einem empathischen Gesprächspartner, einem aufmerksamen Beobachter und einem kreativen Denker.
Ich erlebe Schönheit intensiver, nehme Feinheiten wahr, die anderen entgehen, und kann mich tief mit Menschen, Kunst und Natur verbinden. Diese Qualitäten möchte ich nicht missen, auch wenn sie ihren Preis haben.
Die Kunst liegt darin, ein Gleichgewicht zu finden – zwischen Stimulation und Ruhe, zwischen sozialer Verbundenheit und Rückzug, zwischen dem Annehmen der eigenen Sensibilität und dem Entwickeln von Strategien für eine Welt, die oft nicht auf Hochsensible ausgerichtet ist.
Ein erfülltes Leben als hochsensibler Mensch – Mein Fazit
Als hochsensible Person kann es manchmal eine Herausforderung sein, ein erfülltes Leben zu führen. Doch mit Achtsamkeit und Selbstfürsorge ist es möglich, ein Gleichgewicht zu finden und das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Es ist wichtig, sich selbst gut kennenzulernen und die eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Indem man achtsam mit sich umgeht und auf seine Grenzen achtet, kann man Überforderung vermeiden und sich selbst besser schützen.
Selbstfürsorge bedeutet auch, sich bewusst Auszeiten zu nehmen und sich Zeit für Entspannung und Regeneration zu gönnen. Dies kann durch Meditation, Yoga oder andere Entspannungstechniken geschehen.
Zudem ist es hilfreich, ein unterstützendes soziales Umfeld aufzubauen. Menschen, die einen verstehen und akzeptieren, wie man ist, können einem dabei helfen, sich wohlzufühlen und das Leben als hochsensible Person positiv zu gestalten.
Insgesamt geht es darum, sich selbst anzunehmen und liebevoll mit sich umzugehen. Mit Achtsamkeit und Selbstfürsorge kann man ein erfülltes Leben als hochsensible Person führen – voller Freude, Leidenschaft und innerer Stärke.
Heute sehe ich meine Hochsensibilität als Teil meiner Identität, den ich weder verleugnen noch bekämpfen möchte. Stattdessen lerne ich täglich, bewusster mit ihr umzugehen und ihre Vorzüge zu schätzen. Ich bin überzeugt: Mit dem richtigen Verständnis und einigen praktischen Strategien kann Hochsensibilität von einer täglichen Herausforderung zu einer wertvollen Ressource werden.
Bist du auch hochsensibel? Welche Strategien helfen dir im Umgang mit Reizüberflutung? Ich freue mich auf deine Erfahrungen und Gedanken in den Kommentaren!
Dieser Artikel basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen als hochsensibler Mensch. Jeder erlebt Hochsensibilität anders, und was für mich funktioniert, muss nicht für jeden passend sein. Wichtig ist, den eigenen Weg zu finden und sich selbst mit all seinen Besonderheiten anzunehmen.
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