Lyrik & Prosa

Trauer

Das Papierflugzeug

Ein Windstoß kommt durch das offene Fenster und wirbelt Papierseiten vom Tisch, lässt sie in der Luft tanzen und dann sanft zu Boden schweben. Vorzugsweise landen sie unterm Bett oder unter Schränken und stöhnend muss ich mich verrenken, um sie von dort wieder zu bekommen…

Ich sitze wieder am Fenster, schaue hinaus in den Sonnenschein, runzele die Stirn und frage mich wo der Wind herkommen mag. Versuche mich an einem Gedicht über meinen Vater und es ist, als hätte er mir die Seiten vom Tisch gepustet. Nichts will mir gelingen! Wieso ist es denn so schwer über seinen Vater zu schreiben? Die Worte, Gedanken wollen nicht aufs Papier. Trauer passt durch keine Tintenfeder.

Sonst habe ich nur selten Probleme etwas wie gewollt auszudrücken. Sprache ist mehr als nur ein Medium zur Verständigung. Hier aber versagen meine Künste. Lese meine Entwürfe. Papierbälle werden aus ihnen, die langsam den Tisch erobern. Die Zeilen erscheinen mir entweder zu schwülstig oder zu banal, werden ihm nicht gerecht.

Er war mehr als ich auszudrücken vermag. Versinke in Erinnerungen. Tausend kleine Bilder mit eben so viel Geschichten und dem deutlichen Empfinden, erst langsam zu verstehen, was es bedeutet. Er ist nicht mehr da. Ein Kämpfer war er, ein Genießer, ein Familienvater, ein Bastler und auch ein Freund. Erst heute weiß ich wirklich wie stark er war und ich frage mich, beim Blick hinaus in die Welt, ob ich die gleichen Kräfte hätte. Er kämpfte einen Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Sein unsichtbarer Feind war heimtückisch und ließ ihm keine Chance. Trotzdem wirkte er stets voller Zuversicht, hatte Pläne und seinen trockenen Humor bewahrt. Wie mag es in ihm ausgesehen haben? Wie mag er gezweifelt und gehofft haben? Wann hatte er Angst?

Ich falte aus einem der Papiere ein Flugzeug. Genau so hatte es mir mein Vater als kleiner Junge gezeigt. Selten gelang es mir richtig gut. Jetzt fliegt es. Es segelt hinaus aus dem Fenster, schwingt sich durch die ersten Sonnentage des kommenden Frühlings. Überlege was ich alles von meinem Vater weiß, an was ich mich erinnern kann, was er mir erzählt hat. Krame in meinen Erinnerungen und füge es, puzzlegleich, zusammen. Erzählungen von einer Endkriegskindheit, von Abenteuern, die wir uns heute nur noch schwer vorstellen können. Familiengeschichten. Untauglich für Gedichte und zu privat für Erzählungen.

Er fehlt mir. Jeden Tage, jede Stunde und die Traurigkeit sitzt so tief in mir, dass ich oft glaube an ihr ersticken zu müssen. Ich weiß, dass er bei mir ist. Es ist mehr als nur Glauben, mehr als Wunsch, als Illusion oder der Egoismus des Zurückgelassenen. Ich spüre es einfach. Ich höre ihn, wie er mich ermahnt, nicht den Papiermüll liegen zu lassen. Ich sehe, wie er dem Papierflugzeug ein Lächeln hinterher schickt.

Habe ich gelernt? Ja, ist meine Antwort. Ich habe gelernt, auch wenn es lange gebraucht hat und nicht immer deutlich wurde. Er hat mir vieles beigebracht und noch viel mehr mitgegeben. Ich war wohl selten der Sohn, den er sich gewünscht hatte. Es nagt an mir, obwohl ich weiß, dass ich in seinem Herzen war. Sehe das Leben und Probleme nun aus einem anderen Blickwinkel. Ich habe viel gelernt von meinem Vater, von meinem Freund und ich spüre, dass er es weiß.

Kein Gedicht, beschließe ich. Ich werde nicht versuchen diesen einzigartigen Menschen in wenige Zeilen zu pressen. Auch meine Gefühle, mein Schmerz, passen nicht hinein. Ich lasse sie frei, wie das kleine Papierflugzeug…

In stillem Gedenken an meinen Vater, der im Sommer 2003 verstorben ist und Teil der Aktion: https://in-lauter-trauer.de/alle-reden-ueber-trauer-2017

Erst viel später habe ich gelernt mich mit dem Thema Tod und Trauer auch laut auseinander zu setzen. Ein Großteil verdanke ich dabei Sabine Elvert, die mir mit ihrem Projekt Trauerkinder gezeigt hat, das der Tod mitten im Leben seinen Platz haben darf. 

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